Nach Kriegsbeginn: Die Hoffnung bleibt

Bei unseren Begegnungsreisen nach Beit Jala besuchen wir oft Talitha Kumi mit Schulleiter Matthias Wolf (Foto). Der Unterricht geht weiter, aber es braucht viel Trost und Beistand: Die stellvertretende Leiterin Laura Bishara gibt einen persönlichen Einblick in die Schultage nach dem Beginn des Gaza-Krieges.

Der erste Bombenangriff aus Gaza war sehr laut, zwei weitere folgten. Fast alle aus der Lehrerschaft hörten auf zu unterrichten. Die Schülerinnen und Schüler gerieten in Panik, alle rannten durcheinander. Da Talitha Kumi in der Nähe des Ortes liegt, an dem die ersten Raketen der Hamas einschlugen, musste die gesamte Schule sofort evakuiert werden. Wir informierten die Eltern, dass sie ihre Kinder von der Schule abholen sollten. Nach etwa einer Stunde wurde es still in Talitha Kumi. Kein Laut war zu hören. Ich war die Letzte, die das Schulgelände verließ. Voller Entsetzen ging ich zum Parkplatz, wo mein Auto stand. Das Tor am Haupteingang von Talitha Kumi war verschlossen. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass es bis auf weiteres verschlossen bleiben würde. Es war der 7. Oktober 2023. Der Tag, an dem der Krieg in Palästina erneut ausbrach. Daraufhin wurde Talitha Kumi für zwei Wochen geschlossen. Der Schulweg war für die Kinder zu gefährlich. Aufgrund der exponierten Lage der Schule entschied die Schulleitung, dass das große Eingangstor von Talitha durchgehend geschlossen bleiben sollte.

Die Situation in der Gegend von Bethlehem war nicht besser. Die israelische Militärverwaltung schloss alle Zugangs- und Kontrollpunkte in der Region. Niemand konnte die Stadt erreichen oder verlassen. Kein Auto konnte einen Checkpoint passieren. Alle Menschen hatten Angst, ihre Häuser zu verlassen, weil sie befürchteten, bombardiert zu werden oder mit israelischen Soldaten zusammenzustoßen. So blieben die Menschen in Bethlehem zuhause und verfolgten in den Fernsehnachrichten alle Geschehnisse. Als Schulleiterin musste ich allerdings jeden Tag zum Schulgelände. Das war nicht einfach. Am Anfang rief mich meine Familie zehnmal an und fragte, ob ich in Sicherheit sei.

Während der Schließung des Schulgeländes wurde der Unterricht online fortgesetzt, was für alle eine schwierige Umstellung bedeutete. Lehrende und Lernende mussten sich intensiv auf die Online-Stunden vorbereiten. Ich selbst habe viel Online-Unterricht gegeben und dabei gespürt, dass meine Schülerinnen und Schüler mehr über ihre Gefühle und Emotionen im Zusammenhang mit dem Krieg sprechen wollten als über Mathematik oder Deutsch. Es ist nicht leicht, in diesen schwierigen Zeiten zu unterrichten. Aber der Unterricht ging weiter. Jeden Tag in die Schule zu gehen und die leeren Pausenhöfe und Klassenzimmer zu sehen, fühlte sich wirklich traurig und niederschmetternd an. Ich erinnerte mich daran, wie sich die Schülerinnen und Schüler verhielten, als wir die Schule evakuierten und wie einige von ihnen weinten. Leider mussten unsere deutschen Lehrkräfte und unser deutscher Schulleiter, Matthias Wolf, wegen des Krieges das Land verlassen. Das hat uns noch mehr Tränen in die Augen getrieben. Wir sind ein Team und eine Familie, und ihre Anwesenheit gab uns bis zum Abschied Hoffnung und Kraft.

Nach zwei Wochen rief ich das Bildungsministerium in Bethlehem an und bat um die Erlaubnis, den Unterricht an der Schule wieder aufzunehmen. Das war keine leichte Entscheidung! Sie bedeutete für die Schule viele Veränderungen und Opfer. Zuerst mussten wir das Verkehrsproblem lösen, denn alle Schülerinnen und Schüler sollten das Schulgelände durch den kleinen Hintereingang betreten. Zweitens mussten wir uns mit dem Problem auseinandersetzen, dass einige gar nicht zum Unterricht kommen konnten. Das betraf die Schülerinnen und Schüler aus Jerusalem oder aus abgelegenen Dörfern rund um Bethlehem, die abgeriegelt waren. Drittens waren die deutschen Lehrkräfte nicht vor Ort, also mussten wir einen Plan ausarbeiten, wie sie den Unterricht online weiterführen konnten. Wir mussten schnell daran arbeiten, um alle technischen Probleme zu beheben und die Laptops der Klassen auf den neuesten Stand zu bringen. Außerdem mussten wir den Schultag verkürzen, damit alle Schüler früher nach Hause zu ihren Familien gehen konnten, bevor es möglicherweise wieder gefährlich wird.

Der erste Tag, an dem wieder Leben in Talitha Kumi herrschte, war herrlich. Alle Lehrerinnen und Lehrer kamen früh mit einem versteckten Lächeln im Gesicht in die Schule. Sie freuten sich, ihre Schülerinnen und Schüler wiederzusehen. Aber ihre Freude wurde getrübt durch die Gedanken an die vielen Menschen, die um sie herum getötet wurden. Die Lehrerschaft hatte aufgrund der besonderen Situation mehr zu tun und musste dafür sorgen, dass sich die Schüler in der Schule sicher fühlen.

Einige Schülerinnen und Schüler waren durch die Evakuierung der Schule und die Bilder, die sie täglich in den Nachrichten sahen, traumatisiert und wollten zu Hause bleiben. Sie dachten, die Schule sei nicht sicher und die Raketen könnten jederzeit wieder einschlagen. Einige Eltern riefen mich deshalb an und baten mich, mit ihren Kindern zu sprechen, um sie davon zu überzeugen, dass die Schule sicher sei und sie wieder zur Schule gehen könnten. Ich habe sie daraufhin ermutigt, in die Schule zu kommen und ihnen versichert, dass wir bei ihnen sind.

Nach einer Woche war die Schule wieder zu 90 Prozent besetzt. Aber als ich an den Klassenzimmern entlang durch die Gänge schritt, sah ich Entsetzen und Unsicherheit in den Augen vieler Schüler und Lehrer. Sie waren überwältigt von all den Gefühlen, die sie in sich trugen. Ist dies der letzte Schultag? Können wir morgen unsere Freunde wiedersehen? Können wir morgen aus dem Haus gehen? Was wird mit all diesen toten Opfern in Gaza geschehen? Wird das Leben jemals wieder normal sein? Wir sahen die Notwendigkeit, in der Schule noch mehr emotionale Unterstützung zu bieten. Das übernahmen unsere Sozialarbeiter, die in alle Klassen gingen und dazu ermutigten, über das zu sprechen, was alle gesehen hatten: die Bilder von Bombardements, schreienden Frauen und toten Kindern. Auch unsere anderen Mitarbeitenden und die Lehrerschaft unterstützten die Kinder und Jugendlichen in Talitha Kumi. Sie lächelten ihnen ins Gesicht, nahmen sie in den Arm und gaben ihnen Raum, das auszusprechen, was sie bewegt. Und dies, obwohl die Erwachsenen selbst dringend Hilfe brauchten.

Jeder Tag ist nun eine neue Herausforderung. Wir wissen nicht, was die Zukunft für uns bereithält. Von einer Minute auf die andere kann etwas passieren, das eine Unterbrechung des Schulbetriebs oder sogar eine erneute Schließung der Schule erforderlich macht. Auch die vielen Streiktage, die in der Westbank ausgerufen werden, machen die Arbeit nicht leichter. Doch ich sehe, wie wichtig Bildung heutzutage ist. Ich wünsche mir, dass Talitha Kumi erhalten bleibt und ihre Schülerinnen und Schüler erreicht. Talitha war immer ein Licht für die palästinensische Schülerschaft und konnte sie motivieren, zu lernen und sich eine Zukunft aufzubauen.

In diesen schwierigen Tagen bitten wir Gott, dass er sein Auge auf uns richtet und uns vor allen Gefahren schützt. Wir bitten um den Segen des Himmels für unser Land, damit Frieden einkehren kann. Ich glaube, dass der Frieden eines Tages kommen wird, aber bis dahin arbeiten wir weiter mit dem stärksten Werkzeug, das wir haben: Bildung.

Laura Bishara, Palästinensische Schulleiterin von Talitha Kumi

Mit freundlicher Genehmigung  von Talitha Kumi, in Trägerschaft des Berliner Missionswerks:
www.berliner-missionswerk.de

Fotos: Gerd Herzog

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