„Als Christ stehe ich auf beiden Seiten“

Aus Jerusalem zum meditativen Abend an der Strunde

Seit 2018 lebt Stephan Wahl als Priester und Autor im Heiligen Land (Foto). Er war langjähriger Sprecher der ARD-Sendung „Das Wort zum Sonntag“ und wurde 2006 von Papst Benedikt XVI. zum Monsignore ernannt. Wahl war es immer wichtig, eine Brücke nach Deutschland zu schlagen. Jetzt gastiert er im Rahmen seiner deutschlandweiten Lesereise auch in Bergisch Gladbach. Unter dem Titel „Shalom für Israel – Salam für Palästina“ lädt er zum meditativen Abend in die Kirche zum Heilsbrunnen ein. Christiane Müller, die Wahl bei mehreren Aufenthalten in Jerusalem kennengelernt hat, führt durch den Abend, Pfarrerin i.R. Elli Koch übernimmt die musikalische Begleitung am Flügel. Unterstützung erfährt das Vorhaben durch die Städtepartnerschaft Bergisch Gladbach-Beit Jala e.V..

Monsignore Wahl, Sie sind vor wenigen Tagen aus Jerusalem hier in Deutschland eingetroffen, haben zuvor den Raketenbeschuss in Jerusalem durch die Hamas erlebt. Was sonst haben Sie vom Kriegsgeschehen konkret mitbekommen?  
Stephan Wahl: Ich lebe im arabischen Ostjerusalem im Stadtteil Shu’afat und gleich am 7. Oktober kamen Raketen auf den israelischen Westteil herunter. Seither gibt es fast täglich Raketenalarm. Ich kann mich im Ostteil der Stadt relativ sicher fühlen und nutze eine Warn-App, bin aber trotzdem in ständiger Hab-Acht-Stellung.  

Wie gehen die Menschen mit der Situation um?
Nach anfänglicher Schockstarre hat sich der Alltag ein wenig normalisiert, anderes hat sich aber auch merklich verändert. Die Gemüsestände waren am Anfang selbst bei uns im arabischen Viertel leergekauft, in der sonst von Palästinensern und Israels gemeinsam genutzten Straßenbahn sieht man fast nur Israelis. Und ich trage zu meiner Sicherheit in arabischen StadtteilenShirts mit arabischen Schriftzeichen, um nicht für einen Israeli gehalten zu werden, in israelischen Vierteln verdecke ich es dann aus dem gleichen Grund.Ichspüre, je länger der Krieg dauert und je mehr Opfer er fordert, desto mehr steigt die Frustration.

Auch im Westjordanland ganz in Ihrer Nähe brodelt es gewaltig: Wie schauen Ihre arabischen Nachbarn auf das Geschehen rundum? 
Da gibt es kein Vertun – es gab und gibt in der Bevölkerung Sympathien für die Hamas. Wenn beim Geiselaustausch ein 15-jähriger Palästinenser freikommt, der wegen eines Steinwurfs monatelang in Haft gehalten wurde, dann gilt die Hamas für die Familie als Held und nicht als Terrororganisation. Meine große Sorge ist, dass mit der zunehmenden Zahl getöteter Zivilisten in Gaza die Sympathie für die Hamas wächst. Aber die Gleichung Palästinenser = Hamas ist falsch.

Warum hört man keine deutliche Verurteilung der Hamas durch Palästinenser? 
Die Menschen votieren ganz bestimmt nicht mehrheitlich für die Hamas. Es wäre falsch, so etwas hier in Deutschland anzunehmen. Hamas-Gegner haben schlicht Angst, etwas Kritisches zu sagen und sich und ihre Familie damit in Gefahr zu begeben. Also vernimmt man leider nur die lautstarken Parolen der Extremisten.

In Jerusalem betreuen Sie Pilger und deutschsprachige Gemeinden, halten zugleich immer die Verbindung nach Deutschland. Zum Beispiel vor zwei Jahren mit Ihrem „Ahr-Psalm“ für die Opfer der Flutkatastrophe und jetzt mit Ihrem „Psalm eines Kriegsopfers“. Offenbar gehen Sie als Geistlicher sehr gezielt auf aktuelle Brennpunkte ein.
Das ist meine Art, mit solchen Katastrophen umzugehen. Ich wurde 1960 in Remagen-Kripp geboren und sehe mich als Ahr-Rheinländer. Vor vielen Jahren habe ich in Adenau als Kaplan gearbeitet und deshalb den Menschen in der Region den „Ahr-Psalm“ nach der Hochwasserkatastrophe gewidmet. Den „Psalm eines Kriegsopfers“ habe ich sofort am 7. Oktober geschrieben. Ich versuche auf diese Weise, Unsagbares ins Wort zu bringen und meinem Entsetzen und meiner Trauer Raum zu geben. Aus den Reaktionen vieler Menschen, auch aus Deutschland, weiß ich, dass ich sie damit in ihren Gedanken und Gefühlen unterstützen kann. Diese Verbundenheit bewegt mich: Deutschland ist meine Heimat, Jerusalem mein Zuhause.

Auf Ihrer Lesereise durch Deutschland machen Sie in Bergisch Gladbach mit einem meditativen Abend Station. Was haben Sie vor? 
Ich werde aus meinen Büchern und aus den in den Kriegswochen entstandenen Texten lesen und versuchen, jenseits der schrecklichen Tagesnachrichten einen persönlichen Zugang zur Situation in dem von mir geliebten, heilig-unheiligen Land zu ermöglichen.

Sie wachten am 7. Oktober auf, und es herrschte Terror: Was hat sich seitdem für Sie persönlich verändert?
Ich bin sehr viel mehr sensibilisiert für das, was um mich herum geschieht. Die Prioritäten verschieben sich. Vieles, was ich aus Deutschland höre, auch aus dem kirchlichen Bereich, ist für mich weit weg. Nur 80 Kilometer Luftlinievon meiner Wohnung entfernt tobt ungebremst ein Krieg. Das bringt mich in einen unerträglichen Zwiespalt – als Christ stehe ich auf beiden Seiten. Ich bin wütend über jede abgefeuerte Rakete der Hamas, jedes Bombardement der israelischen Militärs. Ich weine um jedes getötete jüdische Kind, um jedes getötete Kind in Gaza. Ich wünsche den Menschen nichts mehr als endlich ein friedliches Miteinander! 

Interview: Jörg Bärschneider / Foto: privat

Stephan Wahl, „Shalom für Israel – Salam für Palästina“. 

Ein meditativer Abend mit neuen Psalmen und Gedichten aus Jerusalem.
Musikalische Begleitung am Flügel durch Pfarrerin i.R. Elli Koch

Dienstag, 19. Dezember 2023 um 19 Uhr
Kirche zum Heilsbrunnen, Im Kleefeld 23, 51467 Bergisch Gladbach

Eintritt frei, Spenden erwünscht.
Stephan Wahl verzichtet bei dieser Lesereise auf ein Honorar und ist dankbar für eine Spende zugunsten christlicher Projekte in Gaza und in der Westbank. 

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