Außerdem: Stephan Dekker über die Nahost-Reise der städtischen Delegation
Weltweit gedenken Palästinenserinnen und Palästinenser am 15. Mai der Nakba (arabisch „Katastrophe“), der Vertreibung und Flucht während des ersten arabisch-israelischen Krieges 1948, der Besetzung und Zerstörung ihrer Dörfer. Rund 750.000 Menschen – 70 Prozent des palästinensischen Bevölkerungsanteils – verloren ihre Heimat im heutigen Staatsgebiet Israels.
„Für Palästinenserinnen ist die Nakba nicht nur ein Ereignis, das in der Vergangenheit liegt. Vielmehr beschreiben sie mit dem Begriff auch ihre aktuelle Lebensrealität. Denn bis heute ist das palästinensische Streben nach nationaler Selbstbestimmung nicht erfüllt, leben die Flüchtlinge und ihre Nachkommen, oft staatenlos, im Exil, werden palästinensische Staatsbürgerinnen Israels diskriminiert und Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten verdrängt.“ Mittlerweile drohen einzelne Politiker der aktuellen israelischen Regierung sogar mit einer neuen Nakba. (Muriel Asseburg, Bundeszentrale für politische Bildung, APuZ-Israel).
Mitten in diesem schrecklichen Geschehen damals: die Familie Fararje. Auch sie musste 1948 ihr Haus in Zakhariyya westlich von Jerusalem zurücklassen und zog mit Tausenden Palästinensern über Umwege Richtung Bethlehem. Für Vertriebene aus den Dörfern um Jerusalem und Hebron entstand dort 1949 das Flüchtlingslager Deheishe. Nach dem Sechstagekrieg 1967 kamen weitere Flüchtlinge in großer Zahl hinzu.
Mohammed (40), den viele in unserem Verein aus Abrahams Herberge in Beit Jala kennen, wuchs in Deheishe auf. Den Schlüssel des zurückgelassenen Hauses in der alten Heimat nahm er vom verstorbenen Vater für die Familie in Obhut. Oft hat er unsere Besuchergruppen durch die Gassen des Lagers geführt, den Alltag erklärt und mit Nachbarn bekannt gemacht. Zum Abschluss gab’s bei ihm zu Hause regelmäßig einen köstlichen Mokka mit Süßgebäck.
Dr. Annelise Butterweck († 2015), Judaistin und Mitbegründerin unseres Vereins, begab sich auf ihren zahlreichen Reisen durch die palästinensischen Gebiete und Israel auf Spurensuche auch in Zakhariyya. In ihrem Reisebericht „Unterwegs zu den Menschen“ (AphorismA, 2011) beschreibt sie ihren Streifzug durch das heute israelische Dorf: „Als ich eine Frau fragte (…) ob es noch arabische Gebäude im Dorfe gebe, antwortete sie mit großer Bestimmtheit, nein, die seien alle zerstört worden.“ Tatsächlich spürte Annelise zahlreiche Relikte einstigen palästinensischen Lebens auf: überwucherte Ruinen, ein einsames Minarett, überbaute Terrassenkulturen. Sie erwähnt auch, dass ihre Begleiterin Sabine Becker „blühende Pflänzchen aus dem Erdreich Zakhariyyas“ ausgrub, um sie am nächsten Tag dem Vater Mohammeds in Deheishe zu überreichen. „Er freute sich so sehr, denn nun besaß er in seinem Dachgarten auch ein echtes Stück Leben aus seinem verlorenen Heimatdorf.“
Was in Deheishe einst als provisorische Zeltstadt für 3.000 Flüchtlinge angelegt war, ist längst zu einer umbauten Siedlung mit 15.000 Bewohnerinnen und Bewohnern geworden – mit festen Gebäuden, kleinen Läden und Schulen. Das von der UN verbriefte Rückkehrrecht in ihre Heimat bleibt ihnen versagt.
Mit Aida besteht ein zweites Flüchtlingslager in Bethlehem. Im Westjordanland gibt es 19 Flüchtlingscamps und weitere 39 in Libanon, Jordanien, Syrien und Gaza. Alle leiden unter Überbelegung, schlechter Infrastruktur, hoher Arbeitslosigkeit und Ernährungsunsicherheit. (www.unrwa.org/where-we-work/west-bank/dheisheh-camp)
Obwohl formal unter palästinensischer Kontrolle (A-Gebiet), kommt es in Deheishe häufig zu Übergriffen und Verhaftungen durch das israelische Militär, vermeldet das UN-Hilfswerk UNRWA. Auch Mohammeds junge Familie wurde 2016 Opfer einer nächtlichen Razzia, als ein Soldat ohne Vorwarnung durch die Fensterscheibe des Kinderzimmers schoß und den kleinen Sohn verletzte.
Wir freuen uns, Mohammed für ein paar Tage in Bergisch Gladbach zu Gast zu haben. Es ist nicht sein erster Besuch, aber sein erstes öffentliches Gespräch mit allen Interessierten vor Ort. Wir sind gespannt, was er über sein Leben in Deheishe erzählt und welche Perspektiven er für seine Landsleute sieht.
Jörg Bärschneider