Reise nach Palästina: Aufbruch und Verzweiflung

Von Jörg Bärschneider
http://in-gl.de/2015/11/02/palaestina-zwischen-aufbruch-und-verzweiflung/

„Willkommen in Palästina!“ begrüßt uns Mohammed Faraja (33) in Abrahams Herberge. Die 18-köpfige Besuchergruppe des Vereins Städtepartnerschaft Bergisch Gladbach-Beit Jala e.V. ist gerade aus Deutschland eingetroffen. Vor ihr liegt eine einwöchige Reise zu Menschen, Machern und Projekten im Westjordanland.

Mohammed, stellvertretender Direktor des Gästehauses, preist die Nähe Beit Jalas zu herausragenden Sehenswürdigkeiten: zum Beispiel Bethlehem mit der Geburtskirche, die Bergfestung des Herodes, das Unesco-Welterbe der Terrassengärten von Battir.

Und natürlich Jerusalem, kaum zehn Kilometer weiter nord-östlich gelegen. Der Linienbus zum Damaskustor der Altstadt hält vor der Abrahams Herberge. Beit Jala könnte Ausgangspunkt großartiger Touren durch das Heilige Land sein.

Ist es aber nicht – wir sind im Westjordanland. Für uns ist es der Mittelpunkt beeindruckender Begegnungen, ein Brennpunkt des Konflikts zwischen Palästina und Israel.

Mauer statt Brücken

Gleich am nächsten Tag sind wir mittendrin. William Shaer, stellvertretender Bürgermeister (Bürgermeister Nicola Khamis besucht zeitgleich die Partnerstädte Bergisch Gladbach und Jena) beschreibt uns die Situation. Durch die anhaltende israelische Annexion verfügt die Stadt seinen Angaben zufolge heute nur noch über zehn Prozent ihrer ursprünglichen Grundfläche. Die größten territorialen Verluste gehen auf das Konto der illegalen Siedlung Gilo mit 30.000 Siedlern und des fortschreitenden Mauerbaus.

„Die Mauer sorgt für große Verbitterung“, berichtet Shaer. Unerbittlich frisst sie sich durch das Cremisan-Tal nördlich von Beit Jala, zerschneidet wertvolles landwirtschaftliches Kulturland mit Obst-, Wein- und Olivenanbau und soll sich mit dem bereits bestehenden Mauerring um Har Gilo verbinden.

Zur Schädigung der kommunalen Wirtschaft kommen tägliche Schikanen durch die israelischen Besatzungsmacht, erzählt Shaer. So mussten sogar Ausbesserungsarbeiten an Wirtschaftswegen, die im vergangenen Jahr nach starken Regenfällen unpassierbar geworden waren, von israelischen Behörden genehmigt werden. Die Erlaubnis traf Monate später ein – pünktlich zum Ende der Olivensaison.Cremisan: Wie lange noch fließt der Wein?

Unser Besuch des Salesianer-Klosters Cremisan führt uns die zerstörerischen Folgen der Sperrmauer vor Augen. Das Kloster ist bekannt für seinen Wein, der auch nach Deutschland exportiert wird. Der Gewinn aus der Weinkellerei fließt in die Berufsausbildung von Jugendlichen.

Auf der kurzen Anfahrt machen wir Halt und blicken auf die acht Meter hohe Sperrmauer, die sich wie ein Lindwurm durch die Landschaft windet. Palästinensische Familien werden von ihrem Land vertrieben, Hunderte alte Olivenbäume kurzerhand abgeholzt, damit das monströse Bauwerk fortschreiten und den Landraub sichern kann.

Nach ihrer Fertigstellung wird die Mauer direkt durch das Klosterareal mit seinen Produktionsanlagen, mit Berufsschule, Werkstätten und Sportplatz verlaufen, die einst blühende Einrichtung vermutlich in den Ruin treiben.

Mode-Designerin und Geschäftsfrau

Tapfer stemmt sich das 12.000-Seelen-Städtchen Beit Jala gegen den Niedergang, gegen Abwanderung und Hoffnungslosigkeit. Einzelne Menschen sind es, die uns mit ihrem energiegeladenen Gestaltungswillen verblüffen.

Zum Beispiel Tamara Alarja. Die von ihren Großeltern 1971 eröffnete Nähstube hat sich nach eigenen Angaben zum größten Textilunternehmen Palästinas mit 70 Beschäftigten gemausert. Anlässlich unseres Besuches der „Arja Textile Company“ führt uns Tamara durch den Betrieb.

Als Mode-Designerin und zupackende Geschäftsfrau bestimmt die 29-jährige wesentlich die Geschicke der Firma. „Es gibt in Palästina kaum eine Familie ohne ein Kleidungsstück aus unserer Fertigung“, berichtet sie.

50 Prozent der Produktion geht als No-Name-Export nach Israel. Allerdings ist diese überlebensnotwendige Geschäftsbeziehung nicht ohne Tücken. „Wir haben keine Chance, säumige israelische Kunden zur Rechenschaft zu ziehen“, erzählt Tamara beim Rundgang zwischen Webmaschinen und Färbetanks.

Die Besatzungssituation beeinträchtigt die Versorgung mit Wasser, Elektrizität und Färbechemikalien. Doch die junge Frau lässt sich nicht unterkriegen. Entschlossen arbeitet sie am Ausbau eines Onlineshops, plant die Eröffnung eines Modegeschäfts in Ramallah und ist stolz auf ihre eigenes Modelabel.

Leben mit Update

Im Lagerraum begrüßen uns Tamaras Großeltern. Eine kurze Begegnung von denkwürdiger Symbolkraft: die alten Herrschaften im traditionellen Gewand, die Großmutter trägt ein Kopftuch, den Djibab. Tamara hingegen hat enge Jeans und ein selbstdesigntes T-Shirt an, darauf ein Slogan in Arabisch und Englisch. „Kaum hab’ ich das Leben begriffen, gibt’s schon wieder ein Update.“ Ob das ihr persönlicher Wahlspruch ist?

Die starken Frauen Palästinas

Überhaupt, die starken Frauen Palästinas! Menschen von der Tatkraft Tamaras sollten uns noch öfter überraschen. Sie warten nicht auf bessere Zeiten, sondern packen an und wollen den Teufelskreis aus Gewalt, Armut und Abhängigkeit durchbrechen – auf ganz unterschiedliche Art und Weise.

Marina Barham zieht es dazu auf die Bühne. Sie begrüßt uns in den Räumen des Al-Harah-Theaters in Beit Jala. Marina ist Direktorin und Mitbegründerin der Talentschmiede. Angeführt von ihrem sprühenden Temperament tourt die junge Truppe durch Palästina und hatte bereits Auftritte in Europa, darunter in Köln und Mülheim an der Ruhr.

„Unser Theater ist der Zukunft der Jugendlichen gewidmet“, sagt Marina, „künstlerische Arbeit lenkt die überschießende Energie junger Leute in schöpferische Bahnen.“ Klar ist für Marina, dass auch die Tabus und Konflikte innerhalb der palästinensischen Gesellschaft ins Theater gehören. So erreichen Themen wie Aids und Gewalt gegen Frauen auch die entlegensten Dörfer der Westbank.

Darum in die Ferne schweifen

Für zwei Absolventen des theatereigenen Trainingsprogramms öffnet das Al-Harah ein viel weiter entferntes Ziel: Jad Shaheen und Mohammed Raee werden von Anfang Oktober bis Mitte Dezember ein Praktikum am Theas-Theater in Bergisch Gladbach absolvieren, erfahren wir von Marina. Dort sind sie inzwischen angekommen und gestalten das Bühnenbild mit für das neue Stück des Jungen Ensembles. Darin geht es um Krieg, Flucht und Neubeginn. Der Titel: „Richtung unbekannt“.

Wo Menschen wachsen können

Viele Situationen unserer Reise sind dazu angetan, Wesentliches für ein Menschenleben aus dem Strom des Alltags herauszumeißeln. Bei der Führung durch das kleine, feine Al-Harah-Theater mit seinen Werkstätten wird es erlebbar: Wo sich Gedanken frei entfalten, können Menschen wachsen. In diesem Haus belegen Spielfreude, Aufklärung und Hoffnung die erste Reihe, Gewaltdenken und Fundamentalismus sind der Zutritt verwehrt.

Wirtschaft fördern, im Ausland punkten

Frauen, die sich was trauen: Auch Fayrouz Khoury gehört dazu. Die stellvertretende Generaldirektorin der Industrie- und Handelskammer Bethlehem erläutert uns in einer vollgepackten Power-Point-Präsentation die Aufgaben und Probleme von Wirtschaftsförderung unter den Bedingungen des Besatzungsregimes.

Eine wichtige Aufgabe der Kammer sieht sie darin, Präsenz und Image Palästinas im Ausland zu verbessern und mit überkommenen Stereotypen aufzuräumen. „Wir müssen auf internationalen Tagungen und Messen viel präsenter sein, dort zeigen, wer wir sind und was wir können“, fordert sie. In ihrer Professionalität steht die attraktive junge Frau vielen Business-Kolleginnen draußen in der Welt nicht nach.

Zum Schluss wird deutlich, dass Fayrouz auf gepackten Koffern sitzt. „Bitte versteht mich. Ich möchte, dass meine Kinder nicht länger in Angst, Unfrieden und Krieg aufwachsen“, begründet sie, als sie unsere verblüfften Gesichter sieht. Wieder so eine unvergessliche Begegnung, die uns die innere Stärke und Zerrissenheit der Menschen auf berührende Weise nahebringt.

Kampf um den Weinberg

Wie lassen sich Frust über erlittenes Unrecht und Angst vor Schikanen in positive Energien umwandeln? Wie schafft man es, sich aus dem Sog der Feindschaft zu befreien und dem Gegenüber die Hand zu reichen?

Wir befinden uns im „Zelt der Nationen“ auf einem Hügel zwischen Bethlehem und Hebron. Menschen vieler Nationen und aller Religionen treffen sich hier und versuchen gelebte Antworten auf diese Fragen zu geben. Sie organisieren Versöhnungsarbeit, pflanzen Bäume, spielen Theater und tauschen sich in Workshops aus.

Das international anerkannte Begegnungszentrum gehört zum Gelände der palästinensischen Familie Nassar. Seit Jahrzehnten schon versucht die israelische Militärbehörde, die Nassars von ihrem Besitz zu vertreiben, rollen ihnen aggressive Siedler im wahrsten Wortsinn riesige Steine in den Weg. Erst 2014 zerstörten israelische Bulldozer kurzerhand 1.500 Obstbäume und Weinstöcke.

Immer wieder schaffte es Amal Nassar zusammen mit ihren Brüdern Daher und Daoud, den Drangsalierungen zu trotzen. Ein Widerstand, der in den letzten Jahren allein an Gerichtskosten mehr als 100.000 Euro verschlungen hat.

Gegen das Vergessen

Die Nassars kämpfen um mehr als ihren Familienbesitz: Es geht um das Vermächtnis des Großvaters, der die Idee zum Friedensprojekt hatte. Unfassbar, woher die drei ihre Kraft zum friedlichen Widerstand nehmen. „Die ständigen Provokationen machen uns das Leben natürlich nicht leicht“, sagt Amal. „Aber zu wissen, dass wir nicht vergessen werden und immer wieder Zuspruch aus allen Teilen der Welt bekommen, gibt uns Zuversicht. Wir gehen nicht weg.“

Beim Abschied bittet uns Amal um die Übermittlung von Grüßen an Rupert Neudeck. Eine Gedenktafel im Eingangsbereich erinnert daran, dass der Friedenaktivist hier weilte und 2008 für den Bau einer Solaranlage sorgte. Sein Urteil über das „Zelt der Nationen“ fasste er in ein Wort: „Leuchtturm“.

Zuhause im Flüchtlingslager

„Unser“ Mohammed aus Abrahams Herberge hat uns in sein Zuhause eingeladen – ins Flüchtlingslager Deheishe im Süden von Bethlehem. Seinen Ursprung hat das Lager in einer Zeltstadt mit Tausenden vertriebenen Palästinensern aus dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948/49. Aus dem Provisorium ist längst ein Wohnviertel mit Häusern, Schulen und kleinen Läden geworden.

13.000 Menschen leben heute dort. Viele arbeitslose Bewohner, ein marodes Abwassersystem, wilde Müllablagen und Graffiti mit Konterfeis von Widerstandskämpfern prägen das öffentliche Bild. Mohammed hat sein Haus gerade erst gründlich renoviert. Im Wohnzimmer macht er uns mit seiner schwangeren Frau bekannt und versorgt uns mit Kaffee und Plätzchen. Der Vater und ein Bruder leben in der Nachbarschaft, der größte Teil seiner Familie in Jordanien.

Wunden, die nie heilen

Mohammed erzählt uns von der Geschichte seiner Familie. Der Vater war als 16-Jähriger auf der Flucht aus seinem Heimatdorf Zacharia im Deheishe-Camp hängen geblieben. Der Schlüssel zum zwischenzeitlich längst zerstörten Elternhaus hatte lebenslang seinen Traum einer Rückkehr genährt. Vergeblich. Nach 67 Jahren Leid, Entbehrung und enttäuschter Hoffnung starb der alte Mann wenige Wochen nach unserer Begegnung.

Im vorigen Jahr stürmten 100 israelische Soldaten Mohammeds Haus in einer nächtlichen Razzia und demolierten die Inneneinrichtung. 1.500 Soldaten hätten zeitgleich auch die Nachbarhäuser auf der Suche nach drei verschleppten Siedlern durchkämmt, erzählt uns Mohammed. „Jede Familie hier hat ihre bösen Erfahrungen mit der Besatzung gemacht“, sagt er bitter. „Ich werde mich niemals mit diesen menschenunwürdigen Verhältnissen abfinden.“

Mohammed führt uns durch das Viertel. Einen jungen Bekannten, der des Weges kommt, bittet er, uns seine Narben zu zeigen. Eine Kugel steckt noch im Unterschenkel; Brust und Arme weisen Schussnarben auf. Israelische Soldaten hätten ihn aufgegriffen, feindlicher Umtriebe beschuldigt und abgedrückt, sagt er.

Die Mutter des jungen Mannes kommt hinzu, klagt verzweifelt, dass ein weiterer ihrer Söhne seit sechs Monaten ohne Angaben von Gründen inhaftiert und jetzt im Hungerstreik sei. „Ich darf ihn nicht einmal besuchen. Alle Mütter sollen wissen: Wir sind keine Terroristen.“ Beklommen hören wir ihr zu. „Erwartet keinen Frieden“, stößt sie aus, wissend, dass das Leben ihrer verletzten Seele niemals Heilung bescheren wird.

Worüber noch zu berichten wäre

Über viele weitere Stationen und Begegnungen der Reise wäre noch zu berichten: So standen etwa auch Bethlehem, die Al Quds Open University, eine Wanderung durch das Wadi Makhrour nach Battir sowie die Städte Hebron und Jerusalem mit der Gedenkstätte Yad Vashem auf dem Reiseplan.

Für das hochkarätige Programm und die perfekte Organisation, besser als es jedes Reisebüro anbietet, dankte die Gruppe Petra Schöning sowie Axel und Sabine Becker herzlich! Nach der Reise ist vor der Reise, soviel steht zum Ende der Tour fest. Für Herbst 2016 ist der nächste Besuch in Palästina geplant.

Ein Appell, viele Fragen

Diese Reise geht mit dem Auspacken der Koffer nicht einfach zu Ende. Zu stark wirken die Erlebnisse nach. Und es bleiben viele Fragen: Wie ist es möglich, dass wir in unserem hochtourigen Alltag so wenig über das Leben der Menschen in Palästina wissen, ihre Demütigungen und Entbehrungen?

Kann es jemals Frieden im Heiligen Land geben? Oder stehen die Parteien dort schon mittendrin in der nächsten Runde kriegerischer Abrechnung? Was kann Deutschland, was muss Europa tun, um Schritte zu einer friedlichen Veränderung zu stärken?

„Glaubt nicht an den Frieden“, dieser Appell der verzweifelten Mutter aus dem Flüchtlingslager in Bethlehem an die Besucher aus Europa, allen vereinfachenden Trugbildern abzuschwören, will mir nicht aus Kopf und Herz. Da haben schon die unglaublich starken Persönlichkeiten, die wir getroffen haben, ihren Platz.

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