Faten Mukarker: „Wir werden die Nächsten sein, die hier wegmüssen!“

Wie der Gaza-Krieg das Westjordanland erreicht 

Vielfältige Kontakte verbinden Faten Mukarker mit Bergisch Gladbach. 
Das Foto zeigt sie im Gespräch mit Elmar Funken vom Katholischen Bildungswerk im Evangelischen Gemeindezentrum in Herkenrath zum Thema: Leben zwischen Mauern (Januar 2024)   

Sie wuchs in Bonn auf, kehrte in jungen Jahren ins Westjordanland zurück und lebt mit ihrer Familie in Beit Jala: Faten Mukarker ist regelmäßig in Deutschland, hält Vorträge und äußert sich in hiesigen Medien zur Situation in ihrer Heimat. Jetzt gab sie dem Deutschlandfunk ein Interview aus unserer Partnerstadt Beit Jala. Wie blickt sie auf Gaza, was wünscht sie sich von der Bundesregierung, wollte DLF-Redakteur Friedbert Meurer von Faten Mukarker wissen. Wir geben das Gespräch leicht redaktionell bearbeitet wieder.

Anmoderation: Die israelische Armee hat mit ihrer Bodenoffensive auf Gaza-Stadt begonnen, obwohl immer noch hunderttausende Palästinenser und Palästinenserinnen in der Stadt leben. Israel ruft die Einwohner dazu auf, die Stadt zu verlassen. Aber selbst, wenn sie es wollen, stoßen sie auf viele praktische Schwierigkeiten: Wo sollen sie hin, und die wenigen Ausfahrtstraßen sind ja auch völlig verstopft. Faten Mukarker ist eine palästinensische Friedensaktivistin, sie selbst lebt im Westjordanland, in Beit Jala, einer christlich-palästinensischen Stadt südlich von Jerusalem. Und mit ihr habe ich vor der Sendung gesprochen. 

Friedbert Meurer: Guten Morgen!
Faten Mukarker: Guten Morgen! 

Haben Sie im Moment Kontakt zu Einwohnern von Gaza-Stadt, zu Freunden oder sogar Verwandten und hören von denen, was sich da tut?
Ich habe Kontakt zu einer Freundin, und sie ist Christin. Es gibt ja in Gaza noch wenige Christen. Die leben seit zwei Jahren in den Kirchen, weil sie denken, dort könnten sie vielleicht überleben. Also dass die Flieger von oben sehen, dass das eine Kirche ist und keine Bomben auf sie schmeissen.  

Also, sie wohnt in einer Kirche im Moment, sie lebt in einer Kirche, weil sie hofft …?
Alle Christen wohnen in einer Kirche jetzt, weil die denken, vielleicht werden sie nicht bombardiert. Aber sie sind auch schon bombardiert worden, aber nicht wie die anderen Häuser, so richtig drauf. Teile sind bombardiert worden. Eine davon ist die drittälteste Kirche der Welt, eine orthodoxe Kirche. 

Zweifelhafter Schutz in der Kirche
Neben dieser großen Gefahr durch die Bombardierung kann ja im Moment keine Hilfslieferung gebracht werden, seit dem Beginn der israelischen Bodenoffensive. Von was lebt Ihre Freundin im Moment? 
Vor einiger Zeit wurde die katholische Kirche bombardiert und dann sind viele hochrangige Patriarchen aus Jerusalem dort hingegangen mit Hilfsgütern und haben den Menschen dort etwas gebracht. Sie essen sehr wenig, so Reis, Linsen, Mehl. Die Leute wissen nicht mehr, was ist Obst, wie sieht ein Apfel aus, was ist Fleisch.

Wovon hängt ab, ob sich jemand entscheidet, beispielsweise Ihre Freundin oder andere Christen in der Kirche, Gaza-Stadt zu verlassen, wie es ja die israelische Armee auffordert, oder doch in Gaza zu bleiben? Die Hälfte ungefähr, hören wir hier in den Agenturen, hat Gaza verlassen. 

Gezwungenermaßen. In Gaza-Stadt sind viele Hochhäuser. Gaza ist ja ein kleines Gebiet. 10 mal 40 [Quadratkilometer]. Aber da kommt nicht 400, sondern 360 Quadratkilometer raus, weil die breiteste Stelle 10 und die längste 40 [Kilometer] lang ist. So langsam ist in Deutschland angekommen, es ist der dichtbevölkertste Flecken der Welt. Also haben die Leute nach oben gebaut. Es gibt viele Hochhäuser und die werden jetzt nacheinander zerstört. Man zwingt die Leute zu gehen. Sie wissen nicht wohin. Sie haben kein Geld, und wo sollen sie hin? Sollen sie in den Teil, wo nichts mehr steht? Da ist ja gar nichts mehr, wo sie hin sollen.

Jeden Tag Bombentote und Verhungerte 
Und halten sich noch Menschen in den Hochhäusern auf?
Nein, die [Israelis] sagen ihnen, sie sollen rausgehen, kurz vorher. Das reicht nicht, um etwas da drin zu retten. Aber sie werden oft auch mit verletzt. Ist ja alles nah, wo sollen die Menschen hin? Es gibt viele Tote in Gaza-Stadt. Jeden Tag 50, 60 Tote und dazu die Menschen, die verhungern.

Was können Sie, Frau Mukarker, in Beit Jala, im Westjordanland, oder Freunde, Nachbarn, was können Sie tun, um Ihren Landsleuten im Gazastreifen zu helfen?
Ganz ehrlich, nicht viel, außer an sie denken und beten. Wie soll man den Menschen dort was schicken? Das geht nicht, Israel lässt ja nichts rein. Und es ist schwer. Ich will nicht uns mit Gaza vergleichen, aber auch im Westjordanland ist die Situation nicht leicht. Ich sage kurz etwas dazu: Beit Jala ist ja Bethlehem, ist ein Teil davon. Und seit zwei Jahren kommen keine Touristen mehr, und die Bevölkerung von Bethlehem ist auf Touristen eingestellt, nach vielen Jahrhunderten. Doch Touristen kommen nicht mehr, und das heißt, es geht den Menschen wirtschaftlich sehr schlecht im ganzen Westjordanland, auch weil wir abhängig sind von israelischer Arbeit. 
Tausende sind immer morgens aufgestanden, um durch den Checkpoint auf die andere Seite, nach Jerusalem oder Tel Aviv zu fahren, um in Israel zu arbeiten. Denn es gibt nicht genug Arbeit im Westjordanland. Seit dem 7. Oktober darf niemand mehr nach Israel zur Arbeit. Das heißt, die Menschen haben kein Einkommen mehr. In Israel hat man Männer aus Indien geholt anstelle unserer Familienväter. Es hängen viele Familienmitglieder an dieser einen Person. Wir haben viele Kinder, wir leben in Großfamilien, da kommen schnell zehn, zwölf Personen zusammen, die von diesem einem Mann leben, der in Israel arbeitet. Im Bau oder in der Landwirtschaft.  

Niemals schweigen bei Menschenrechtsverletzungen!
Sie  haben vielleicht gelesen, die EU-Kommission will Sanktionen verhängen. Sie bekommen die Diskussion in Deutschland mit. Die Haltung der Bundesregierung – wie denken Sie darüber?
Ich habe gerade die Pressekonferenz von heute gehört. Die war so schlimm! Ein Journalist fragt, ob Deutschland auch bei diesen Sanktionen mitmachen wird. Denn das ist ja bald. Und da sagt der Pressesprecher der Bundesregierung, nein, wir müssen noch überlegen. Was gibt’s zu überlegen? Auch der UN-Sicherheitsrat hat gesagt, das ist ein Genozid. Dann hat ein Journalist den Pressesprecher weiter gefragt und die Antwort war: Wir sehen noch nicht, dass alle Kriterien da sind und wir müssen noch überlegen. 

Sie meinen Regierungssprecher Stefan Kornelius. Was würden Sie ihm oder der Bundesregierung sagen, wenn sie sagt, das zu tun – Handelssanktionen gegen Israel zu beschließen, wäre ein Bruch mit all dem in unserer Israelpolitik, was wir seit den 60er-Jahren gemacht und aufgebaut haben. 
Ich weiß, dass es nicht einfach ist. Ich hab‘ ja jahrelang in Deutschland gelebt. Und ich weiß, was in Deutschland geschehen ist, und über den Holocaust. Und ich habe jahrelang die Besonderheit der deutsch-jüdischen und deutsch-israelischen Beziehungen mitbekommen. Aber schon lange, nicht nur seit dem 7. Oktober, frage ich mich, was geschieht mit dieser extremen Regierung. Schon lange habe ich mir gewünscht, dass israelische Politiker einmal sagen, wir müssen noch eine Besonderheit dazu nehmen, eine Lehre sozusagen aus dem Holocaust: Wir dürfen niemals mehr schweigen, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Das muss doch auch eine Besonderheit sein! Viele Menschen wissen doch in Deutschland, dass viele in Israel nicht einverstanden sind mit dieser Regierung und dass sie den Krieg in Gaza nicht mehr wollen. Tausende, die raus gehen auf die Straße. Das muss doch auch für die deutsche Regierung so ein Blick sein, dass sie eigentlich Extreme unterstützen. 

Hoffnung, dass Menschen weltweit auf die Straße gehen
Wie wichtig wäre das denn für die palästinensische Seite, wenn die Bundesregierung sich so äußern und verhalten würde, wie Sie sich das wünschen?  
Sehr wichtig. Ich erzähle hier immer, dass viele Deutsche nicht dafür sind, was die Regierung sagt. Aber ganz ehrlich, bei uns kommt ja nur in den Nachrichten an, was die Politiker sagen. Und das war echt schlimm. Wann ist die deutsche Regierung aufgewacht aus ihrem Koma? Das ist noch keine zwei, drei Monate her. Und deswegen haben wir das Gefühl, wir sind die Opfer der Opfer. Wir haben das Gefühl, wir zahlen eine Rechnung, etwas, das wir nicht begangen haben.

Gibt es etwas, Frau Mukarker, etwas im Moment, was Ihnen Hoffnung macht? 
Die Menschen, die auf die Straße gehen in dieser Welt. Das sie die [Regierungen] vielleicht umstimmen können. Ich meine Frankreich und Spanien, die wollen bald Palästina anerkennen. 

Und Deutschland nicht.
Nein. Deutschland sagt, erst nach Verhandlungen mit Israel. Aber die wollen uns doch nichts geben. Im Gegenteil, wir haben mittlerweile 940 Checkpoints und Tore [im Westjordanland]. Überall in den Straßen von Bethlehem sind Tore, die man auf- und zumachen kann zum Separieren. Die [Israelis] wollen uns erstmal in zwei große Teile teilen, und dann soll jeder Teil, also jede Stadt, eine Art Selbstbestimmung haben, also keine palästinensische Autonomieregierung. Das Wort Palästina soll verschwinden und jede Stadt hat mit der anderen nichts zu tun. Die ist dann ohne Genehmigung nicht zu erreichen.

„Auf was wartet Deutschland?“ 
Da das so ist, ist es für einen palästinensischen Staat zu spät?
Es ist zu spät, ja, leider. Ich denke, man hat zu lange gewartet. Und die [Israelis] wollen uns ja nichts geben. Auf was wartet denn Deutschland? Wir leben im Unrecht schon Jahrzehnte, und ich glaube, jeder Politiker in Deutschland und jeder Mensch in Deutschland, wenn er in sich forscht, weiß, man hat uns seit 1948 Unrecht getan.

Frau Mukarker, ich danke Ihnen sehr für das Interview und wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute in Beit Jala. Vielen Dank und auf Wiederhören!
Denkt an uns, denn wir werden die Nächsten sein, die hier weg müssen! 

Das Interview wurde am Donnerstag, 18. 9. 2025 im Deutschlandfunk ausgestrahlt: https://www.deutschlandfunk.de/gaza-und-der-einmarsch-interview-mit-faten-mukarker-palaestinensische-friedens-100.html

JB

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